Das Einsame Burgfräulein
In längst vergangener Zeit lebte ein Burgfräulein in Neustadt-Glewe, das nicht besonders hübsch war, aber ein gutes Herz besaß. Da es sehr schüchtern war, verbrachte es die meiste Zeit allein, zog sich hinter den dicken Mauern zurück und gab sich den schönen Künsten hin. Das Burgfräulein besaß vielerlei Talente, konnte zeichnen, singen und tanzen, schrieb so manches Gedicht oder kleine Geschichten. Doch tat es dies meist nur für sich, selten bekam jemand etwas davon zu sehen oder zu hören. Obgleich sich das Burgfräulein an die Einsamkeit gewöhnte, ward ihm doch bisweilen das Herz schwer, denn es sehnte sich nach der großen Liebe. Immer dann, wenn rund um die Burg ein ausschweifendes Gelage gefeiert wurde, die Leute sangen und tanzten, ihre Ware feilboten und gemeinsam tranken und speisten, spürte das Burgfräulein ganz besonders sein Herzeleid. Es beobachtete die glücklichen Paare, die auf dem Festplatz flanierten, sich herzten und küssten. Wehmütig bestieg das Burgfräulein dann den höchsten Turm der Burg, setzte sich an eines der großen Fenster und starrte verträumt ins Leere. Von tiefer Sehnsucht geplagt, stellte sich das Burgfräulein droben oft vor, wie ein Ritter in strahlender Rüstung zu ihm den Turm hinaufstiege und Gefallen an ihm fände. Doch es kam nie ein solcher Ritter, auch kein anderer Mann, der dem Burgfräulein zugetan wäre.
So verging Jahr um Jahr, das Burgfräulein wurde immer älter und blieb unvermählt. Und immer wieder bestieg es allein den hohen Turm und blickte durch das Fenster, hinaus in die Welt und das bunte Treiben vor der Burg. Doch schließlich, an einem Frühlingstage, kam ein gar lustiger Spielmann des Weges. Er vernahm die liebreizende Stimme des Burgfräuleins und ward sehr angetan von dem herrlichen Gesang. Drum beschloss er, um das Burgfräulein zu werben, wohl wissend, dass er nur ein Spielmann war und nicht von Adel. Daher verkleidete er sich kurzerhand, gewandete sich in feinem Tuch und nannte sich „Herzog zu Riga“. Auf diese Weise vorgaukelnd, dass er aus hohem Hause war, warb er um die Gunst des Burgfräuleins, denn in seinen Augen war es allerliebst und ganz und gar hinreißend. Der Spielmann selbst war von stattlicher Gestalt, also wohlgenährt, und ward allein dadurch sehr überzeugend in seiner Rolle als Herzog. Auch war er gebildet und redegewandt und wusste, das Gesinde zu führen und dessen Arbeiten zu überwachen.
Zwar bemerkte das Burgfräulein sein Interesse an ihm und fühlte sich geschmeichelt, doch aus Furcht vor Enttäuschung und Schmerz wies es den sogenannten Herzog zunächst zurück. Der aber ließ sich nicht beirren und buhlte weiter um die Zuneigung des Burgfräuleins. So vergingen einige Tage und Wochen, doch der Spielmann gab nicht auf. Er kniete sogar vor ihr nieder und sang ihr voller Hingabe ein Minnelied. Ob es nun seine Hartnäckigkeit war oder seine romantischen Gesten und Worte, lässt sich schwer sagen; wie dem auch sei, mit der Zeit konnte er das Herz des Burgfräuleins erweichen und so willigte es schließlich hoch oben in seinem geliebten Turm, in dem es so oft davon träumte, ein, ihn zu ehelichen.
Erst später erfuhr das Burgfräulein, aus dem her nun eine Burgfrau wurde, dass der Herzog eigentlich nur ein Spielmann war, doch das störte die Burgfrau nicht. Ganz im Gegenteil, sie war inzwischen voller Liebe zu ihm und war selig. Die beiden sangen fortan gemeinsam und dichteten neue Lieder. Die Burg zu Neustadt-Glewe wurde ihr Zuhause und, wenn Du selbst einmal den hohen Turm besteigst und ganz still bist, dann hörst du noch heute den wundervollen Gesang des einstigen Burgfräuleins von den Mauern widerhallen.